Humanisten edieren

Organisatoren
Mittelalterzentrum, Universität Freiburg; School of History des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS); SFB 644 "Transformationen der Antike", Berlin
Ort
Freiburg im Breisgau
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.01.2010 - 22.01.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Ronny Kaiser, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl Mittelalter II, Humboldt-Universität zu Berlin

„Humanisten edieren“ – die von vornherein so intendierte grammatikalische Zweideutigkeit des Tagungsthemas benennt ein nicht minder vielschichtiges, in sich verschränktes Sinn- und Aufgabenpotential für die Humanismusforschung, welchem sich die wissenschaftliche Tagung anlässlich des 70. Geburtstages von Dieter Mertens in exemplarischen Fallstudien und unter heterogenen Zugangsmöglichkeiten annahm. Konzipiert und organisiert wurde die Tagung von Sabine Holtz (Tübingen), Albert Schirrmeister (Berlin) und Stefan Schlelein (Berlin).

In seiner Einführung umriss ALBERT SCHIRRMEISTER (Berlin) das Spektrum des Tagungsthemas und strich den sowohl subjektivischen als auch objektischen Charakter des Themas heraus. Zwischen diesen Polen, so Schirrmeister, spannt sich die semantische Polyvalenz auf, aus der sich die konzeptionellen Ideen und tagungsrelevanten Fragestellungen ergeben. Zum einen die – im subjektivischen Sinn verstandenen – Humanisten in ihrer Tätigkeit als Editoren: Grundlegend für die Erarbeitung dieses Themenkomplexes ist die Einsicht in die wohl kaum zu überschätzende Bedeutsamkeit der Entwicklung und Verbreitung des Buchdrucks sowie des damit zusammenhängenden und dem Humanismus eigentümlichen Wissenschaftsverständnisses, mit dem bestimmte mediale Techniken und soziale Einstellungen untrennbar verbunden sind. Zum anderen die – im objektivischen Sinn verstandenen – Humanisten, die ediert werden. Für diese Perspektivierung des Tagungsthemas ergeben sich vor allem methodische Fragestellungen: Wie können z.B. neue Editionen die soziale, kulturelle und kommunikative Situation der humanistischen Drucke mit abbilden? Wie können also – um ein weiteres Beispiel zu nennen – ganz konkret Signale von Mündlichkeit aus den schriftlichen Zeugnissen aktiviert werden?

Die Tagungsbeiträge gruppierten sich um diese sowohl subjektivisch als auch objektivisch zu verstehenden Differenzierungsmöglichkeiten des Tagungsthemas, um die semantische Bandbreite auszuloten. Die Referenten nährten sich dabei von durchaus unterschiedlichen Zugängen dem subjektivisch verstandenen Themenkomplex:

BIRGIT STUDT (Freiburg) untersuchte in ihrem Beitrag die so genannten Collectaneen der Humanisten, handschriftlich verfasste und erst später publizierte Briefe und Sammelhandschriften, aus doppelter Perspektive. In einem ersten Zugang fokussierte sie den sozialgeschichtlichen Aspekt der Collectaneen als Ausdruck humanistischer Informationskultur und wies dabei zu Recht auf das integrative und gruppenkonstitutive Potential dieser Textsorte hin. Darauf aufbauend skizzierte sie die literarischen sowie inhaltlichen Charakteristika und Authentizitätsstrategien der Collectaneen und arbeitete auf diese Weise das von diesen Texten ausgehende hohe Reflexionspotential zur Selbstwahrnehmung eigener humanistischer Historiographie heraus.

SÖNKE LORENZ (Tübingen) zeichnete in seinem dezidiert sozialgeschichtlichen Beitrag die Karriere des jungen Melanchthon in seiner editorischen Tätigkeit nach. Er wies darauf hin, dass der junge Melanchthon einerseits auf Reuchlin als Förderer, andererseits auf die temporär nach Tübingen übersiedelte Offizin Thomas Anshelms zurückgreifen konnte. Im Gegensatz zu Heinrich Bebel, so legte er einleuchtend dar, eignete sich Melanchthon mit Unterstützung von Reuchlin verschiedene Wissensformen, technische Fertigkeiten und personelle Verbindungen an, die es ihm ermöglichten, bereits ungewöhnlich früh die eigene wissenschaftliche Karriere zu befördern und sich in Beiträgen zu gedruckten Editionen einem breiten Gelehrtenkreis bekannt zu machen. Eindrucksvoll demonstrierte Lorenz an seinem Beispiel die enge Verzahnung und innere Verschränkung zwischen dem sich entwickelnden Buchdruck, der sich zunehmend differenzierenden und sich stets neu konstituierenden humanistischen Gelehrsamkeit und Wissensformen sowie die Interaktionsradien von Förderern, humanistischen Editoren, Verlegern und Druckern.

Mit seinem literaturwissenschaftlichen Beitrag zu den Briefen des Mutianus Rufus ordnete sich ECKHARD BERNSTEIN (Freiburg) explizit dem Tagungsthema nicht ein, sondern unterlief es, da eben Mutianus Rufus keine Werke in irgendeiner Weise edierte. Umso mehr wollte Bernstein seine Untersuchung als zum Tagungsthema komplementären Beitrag verstanden wissen. Er stellte die Mutianischen Briefe ins Zentrum seiner Ausführungen und ging der Frage nach, weshalb Mutian sich in seinen Briefen bewusst sowohl gegen eine eigene als auch gegen eine posthume Edition seiner Werke aussprach. Dabei strich Bernstein auch die durchaus heterogenen literarischen Motive, Charakteristika und Techniken heraus, ordnete die Briefe in ihrem Entstehungskontext ein und lotete auf dieser Grundlage die unterschiedlichen Funktionspotentiale der Mutianischen Briefe aus.

FELIX HEINZER (Freiburg) nährte sich der Fragestellung des Tagungsthemas mit einem hybriden Beispiel, indem er auf das humanistische Edieren eines humanistischen Textes Bezug nahm und auf diese Weise beide semantischen Pole in seinem Vortrag thematisierte. In seinem Beitrag leuchtete er die Transformation und Funktionalisierung der handschriftlichen Dedikationsepistel von Marsilio Ficino an Eberhard im Bart zur Schrift „De comparatione solis ad deum“ in der 1547 in Tübingen edierten Ausgabe dieser Schrift aus. Während Ficino 1493 in seiner Dedikationsepistel Brenninger und den Württembergischen Grafen Eberhard im Bart für deren literarische und kulturelle Bemühungen lobt, wird diese – ursprünglich handschriftliche – Epistel 1547 in gedruckter Fassung in einer neuen Edition der Schrift von Caspar Volland aufgenommen, mit zusätzlichen Schichten aus Briefen angereichert, auf diese Weise in den konfessionellen Auseinandersetzungen seiner Zeit kontextualisiert und dem Abt von Zwiefalten, Nicolaus Buchner, zugeeignet. Schlüssig wies Felix Heinzer auf die polemische Neuausrichtung des Opus hin, welches in der Edition von 1547 eine eindeutig konfessionelle Stoßrichtung gegen den eigenen württembergischen Landesfürsten, Herzog Ulrich von Württemberg, bekommt.

CLAUDIA WIENER (München) skizzierte in ihrem Beitrag am Beispiel der Schedelschen Weltchronik einerseits die literarischen Strategien der Aneignung von Autoritäten für die eigene Argumentation. Dabei legte sie vor allem den Umgang der Nürnberger Verfasser mit Enea Silvio Piccolominis „Europa“ und Jacopo Foresti da Bergamos Supplementum Chronicarum dar und verwies in ihrer Analyse auf den montagehaften Charakter der Scheldeschen Weltchronik, zum anderen machte Wiener darauf aufbauend deren Charakter als humanistische Edition deutlich. Sie schlussfolgerte nur konsequent, dass auf diese Weise Humanisten andere Humanisten edieren: Schedel ediert und transformiert Piccolomini, indem er ihn zunächst durch Fragmentierung seines eigentlichen Bedeutungszusammenhangs entblößt und entpolitisiert, um ihn anschließend – der eigenen Argumentation angepasst – einer Re-Kontextualisierung zu unterziehen.

FRANZ FUCHS (Würzburg) warf in seinem neue Quellen zu Tage fördernden Vortrag am Beispiel von Jakob Lochers Inschriften und deren zum Teil handschriftlicher Überlieferung die Frage nach der Medialität humanistischer Texte auf. Dabei fragte er einerseits nach der medialen Relevanz für die Überlieferung und verwies exemplarisch auf die unterschiedlichen Überlieferungsstränge bestimmter von Locher angefertigter Inschriften. So konnte er an Jakob Locher einerseits deutlich die epigraphische Editionspraxis der Humanisten herausarbeiten und zugleich auf die Bedeutsamkeit der Zweitverwendung eigener Inschriften für den sozialen Status der Humanisten hinweisen.

Eine ebenso breitgefächerte Themenvielfalt wie hohes Reflektionspotential zeichneten auch den objektivischen Aspekt des Tagungsthemas, das Edieren von Humanisten, aus. Dabei galt das vorrangige Interesse methodologischen Überlegungen und Schwierigkeiten sowie den transformatorischen Konsequenzen, die sich bei einer Edition humanistischer Texte ergeben können.

So wies JOHANNES HELMRATH (Berlin) in seinem Beitrag zum Editionsprojekt der Reichstagsakten auf die methodischen Schwierigkeiten eines solchen Projektes hin und akzentuierte dabei zu Recht den transformatorischen Charakter einer Edition als eines durch den Editor kompilierten Werkes: Er hat aus heterogenen Quellen ein Korpus zu konstituieren, wodurch die Quellen erst post festum zum Typus der Reichtagsakten generiert werden. Der Rezipient ist in Bezug auf Definition, Auswahl und Vollständigkeit der Quellen auf die Genauigkeit des Editors angewiesen, der in der Edition gewissermaßen eine neue Wirklichkeit herstellt. In einem weiteren Schritt skizzierte er die in den Reichstagsakten transportierten humanistischen Inhalte, indem er besonders die Rolle und Wirksamkeit der Reden und Briefe Enea Silvio Piccolominis im Basler Konzil herausstrich. Sein besonderes Interesse galt dabei der ‚Türkenrede‘, die er auf ihre antiketransformatorische Funktion hin auslotete.

WILHELM KÜHLMANN (Heidelberg) ging in seinem sehr umfassenden, vornehmlich literaturwissenschaftlich ausgerichteten, öffentlichen Festvortrag unterschiedlichen kulturpolitischen Funktionen von Editionen nach. Dabei fokussierte er zum einen – am Beispiel von Paracelsus – die Frage nach der Wirkmächtigkeit von posthum veröffentlichten Werkeditionen bei der retroaktiven Autoritätskonstruktion eines Humanisten. Diese zeichneten sich vor allem darin aus, dass in ihnen dem Autor nicht selbstverfasste Werke zugeschrieben werden. Eindrucksoll wies Kühlmann die von den editorischen Akteuren darin stets vertretenen Authentizitätsansprüche und Plausibilisierungsstrategien nach. In diesem Zusammenhang betonte er auch die Wichtigkeit möglichst alter Handschriften, welche die Autorität der Editoren stützen sollten. In einem weiteren Schritt lotete er dann am Beispiel der Philosophia prisca aus, wie Editionen sowohl durch integrative als auch durch exklusive Textverwertungen und –editionen zur Destruktion eines ‚Mythos‘ führen konnten. Eine weitere Funktion sah Kühlmann in der popularisierenden Funktion von Übersetzungen in Editionen, die bewusst auf ein anderes, nicht notwendigerweise gelehrtes Publikum abzielten und dort eine andere Wirkungen entfalten konnten und auch sollten. Als einen anderen Funktionstyp von Editionen formulierte er – exemplarisch an den antiken Kirchenvätern demonstriert – die produktive Aneignung und funktionale Ausrichtung von (spät)antiken Schriftstellern, um in zeitgenössischen Diskussionen und Auseinandersetzungen die eigene Position argumentativ zu fundieren.

Unmittelbar an Claudia Wiener schloss sich der Beitrag von BERND POSSELT (München) an, in welchem er eindrucksvoll die heutigen Editionsmöglichkeiten der Schedelschen Weltchronik mittels eines Computerprogramms vorstellte, durch dessen Hilfe er die intertextuellen Bezüge der Vorlagen, aus denen die Chronik kompiliert wurde, ebenso wie die der unterschiedlichen lateinischen und deutschen Fassungen graphisch sichtbar machen konnte. Posselt konnte zeigen, dass für bestimmte Texte allein eine solcherart konzipierte digitale textgenetische Quellenausgabe den Nachvollzug des spätmittelalterlichen Arbeitsprozesses ermöglicht.

Eine solche Edition kann allerdings gedruckte herkömmliche Editionen allein ergänzen, nicht ersetzen: VERONIKA MARSCHALL (Frankfurt / Main) stellte in einem Werkstattbericht ihr Projekt der Textedition, Übersetzung und Kommentierung von den lateinischen Werken Martin Opitz` vor und führte die spezifischen editorischen und kommentatorischen Schwierigkeiten für eine angemessene Gestaltung einer Edition eines gelehrten späthumanistischen Textkorpus vor, die den Anspruch hat, das edierte Werk heutigen Lesern für eigene interpretatorische Ansätze zu erschließen. Zudem nahm sie in ihrem Vortrag auf das Problem der „Zweisprachigkeit“ im produktiven Schaffen Opitz` Bezug, da Opitz nur im Verhältnis von Latein und Nationalsprachlichkeit als Humanist verstanden werden könne.

Im Ergebnis führte die Tagung durch ihre thematisch breit gestreuten und sich in ihren Zugangsweisen ergänzenden Vorträge eindrucksvoll die Problemfelder vor Augen, mit denen sich die Humanismusforschung konfrontiert sieht, und stellte zugleich Desiderate auf, die es zu schließen gilt. Wenngleich die thematische Vielfalt der Beiträge es nicht vermochte, alle denkbaren Koordinaten des Tagungsthemas abzustecken, so wurden die wesentlichen Eckpunkte doch überzeugend markiert und wichtige Erkenntnisse und Anregungen zutage gefördert.

Konferenzübersicht:

Albert Schirrmeister (Berlin)
Einführung ins Tagungsthema

Birgit Studt (Freiburg)
Bartholomäus von Andlau und Sigismund Meisterlin im Gespräch

Johannes Helmrath (Berlin)
Humanistica in den Reichstagsakten

Öffentlicher Festvortrag
Wilhelm Kühlmann (Heidelberg)
Die Edition als kulturpolitische Tat. Paradigmen des oberrheinischen Humanismus

Sönke Lorenz (Tübingen)
Buchdruck und Karriere. Der junge Melachthon

Eckhard Bernstein (Freiburg)
Tolle epistulas et barbaries erit. – Überlegungen zur Korrespondenz des Mutianus Rufus

Felix Heinzer (Freiburg)
Marsilio Ficinos "De comparatione solis ad deum" - Von der Dedikationshandschrift für Herzog Eberhard im Bart zum Tübinger Druck von 1547

Claudia Wiener / Bernd Posselt (München)
Collectum brevi tempore – die Textgestalten der Schedelschen Weltchronik

Veronika Marschall / Robert Seidel (Frankfurt/M.)
Zur Edition, Übersetzung und Kommentierung der lateinischen Werke von Martin Opitz – Bericht aus einem laufenden Projekt

Franz Fuchs (Würzburg)
Jakob Locher Philomusus als Inschriftendichter


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger